Am 22.05.2020 fand der Kick-off der sechsteiligen Webinar-Reihe „Das ERP-Cloud-Projekt von A bis Z“ statt. Dr. Joachim Weinbrecht, Senior Partner der W+W und Sven Schnägelberger, Geschäftsführer der BPM&O, beleuchten und diskutieren im Rahmen der Reihe alle Themen rund um eine ERP-Cloud-Einführung.

Das erste Webinar galt der Einführung in das Thema und dem Ausblick auf die nächsten fünf Sessions, die nach Projektphasen gegliedert sind. Im Rahmen des Kick-offs wurden einige Fragen besprochen, die wir im Folgenden nochmal aufbereitet haben.

 

Fragen aus dem Webinar

Was ist der große Unterschied zwischen einer klassischen On-Premise ERP-Einführung und der Einführung einer cloud-basierten ERP-Lösung?

Bei einer klassischen On-Premise ERP-Einführung, lässt sich das System und die vom Hersteller entwickelten Standard-Prozesse sehr stark auf die Anforderungen des Unternehmens anpassen. Dadurch ist zu Beginn solcher Projekte nicht klar, wie der Prozess am Ende aussehen wird. Der Prozess wird erst in der Feinkonzeption vollständig ausgearbeitet. Im Nachgang werden die Aufbauorganisation und die Stammdaten an diesen Prozess angepasst. Diese Vorgehensweise funktioniert jedoch nur, weil die Projektdauer von 3-5 Jahren genügend Spielraum dafür lässt.

Die Cloud Projekte sind anders: Die Prozesse der Lösungen sind wesentlich starrer vorgegeben. Bevor das Projekt startet, ist klar, wie der Prozess am Ende aussehen wird. Deshalb muss man sich viel früher auf das Projekt vorbereiten. Vor allem muss man die Change-Erfordernisse erkennen und die Organisation vor dem Einführungsprojekt vorbereiten. Wir nennen das Predictive Change. Eine Cloud-Einführung bis zum Go-Live dauert ca. ein halbes bis dreiviertel Jahr. In dieser Zeit können keine strukturellen Veränderungen in der Organisation stattfinden. Bereits vor dem Go-Live muss die Organisationskultur und Struktur angepasst werden.

 

Startet man ein Projekt mit einem Soll-Prozess-Design, um daraus Anforderungen abzuleiten oder ergibt man sich den vorgefertigten Templates und passt seine Organisation der IT an?

Früher war ein ERP-System ein Monolith. Bei R2 (SAP) waren alle Funktionen in einem Produkt integriert. Bei R3 (SAP) gab es erste Prozessbereiche, die ausgegliedert wurden (CRM und BI). In der neuen Cloud-Welt findet eine „Appisierung“ von ERP statt. Spezialprozesse, wie zum Beispiel der Einkaufsprozess bei der SAP (Ariba), werden in eine App ausgegliedert. Vollständige E2E-Prozesse mit Workstreams sind nicht mehr im Kern des eigentlichen S/4 enthalten. Das heißt, dass ERP der Zukunft wird ein Bündel von Produkten sein, die dank der Technologie zusammengeführt werden können. Bei diesem Best-of-Breed Ansatz können die einzelnen Apps von einem Hersteller sein, müssen aber nicht. Insofern ist es ganz wichtig, dass die Unternehmen ihre Prozesse kennen, um sich das System und die Apps, die zu ihren Anforderungen passen, auswählen zu können. Im schlimmsten Fall findet man kein passendes Produkt für das Wunschkonzert. Grundlage für die Auswahl der Apps bilden die Geschäftsanforderungen, Business Needs, Ziele und Strategie. Im Folgenden wird die Prozesslandkarte aufgenommen und beschrieben, jedoch noch nicht nach BPMN 2.0 modelliert. Dieser Schritt folgt, sobald das System ausgewählt wurde. Das ist unser Königsweg den wir versuchen mit W+W360°, unserer Methode und dem Tool zu gehen.

 

Es gab eine Phase am Markt in der einige BPM-Tool-Hersteller die Idee hatten, die Systemauswahl über dokumentierte, im Detail modellierte Prozesse zu steuern. Ist das Thema komplett verschwunden?

Ich bin der Meinung, das wäre zu ineffizient. Das machen wir nicht, sondern wir spannen eine Prozesslandkarte mit den Unternehmen auf. Im Vordergrund stehen die E2E-Kernprozesse und wie sie bestmöglich die Anforderungen der Kunden-, Partner- und Lieferanten erfüllen. Für anderen Themen wie z.B. die Finanzbuchhaltung muss nicht unbedingt Zeit verschwendet werden, denn das kann heute jedes System. Interessant sind jedoch neben den Kernprozessen die Planungs- und Budgetierungsprozesse, die intensiv überdacht werden müssen. Das sind genau die Anforderungen, die wir zur Entwicklung einer Anforderungsliste für die Toolauswahl analysieren, in unserem Tool W+W360° erfassen und mit dem Unternehmen verabschieden.

 

Meine Erfahrung (25 Jahre ERP Einführung) ist, dass 50% der Unternehmen erst die Sollprozesse definieren. Leider gibt es immer die Wünsche eine 1zu1 Migration zu machen. Damit besteht die Gefahr, dass ein ERP Cloud-Projekt ein reines IT Projekt wird. Im Nachgang gibt es dann das Aufwachen. Klare Management Fehler.

Die Gefahr besteht nicht unbedingt, weil die neue Technologie eigentlich genau das Gegenteil ermöglicht. Trotzdem, die 1zu1 Migration, ein Brownfield-Ansatz, den alten Wein in neue Schläuche zu gießen ist „wasted money“. Unternehmen sollten, die mit der neuen Technologie einhergehenden Funktionen nutzen und Unternehmensvorteile generieren und nicht nur eine Kopie erstellen.

Was machen wir stattdessen: Es ist wichtig Prozessmanagement in das Unternehmen zu tragen und dort zu etablieren, also als Organisationsform zu verankern, um E2E-Prozesse und Funktionsbereiche managen zu können. Dafür benötigen Unternehmen Process Owner und Key User, die im Fachbereich verankert sein sollten. In den meisten Unternehmen müssen insbesondere die Process Owner erst entwickelt und ausgebildet werden. Auch damit beginnen wir in Phase 0. Wir entwickeln mit den Fachbereichen die Prozesslandkarte und geben ihnen unser Tool, sodass sie selber die Business Anforderungen erfassen. Das heißt die Fachbereiche werden von Anfang an in das Projekt eingebunden und die relevanten Key User und Process Owner werden aufgebaut.

Ich wage sogar die These; im Hinblick auf die Entwicklung des Customizings und die geringer werdenden Einstellmöglichkeiten der Tools, dass in 10 Jahren die Fachbereiche Ihre Tools selber konfigurieren. Dafür wird es keine IT mehr benötigen. Die IT benötigt es für den Betrieb der Lösungen, den Teil, der nicht vom Service Provider übernommen wird, sowie für die Orchestrierung und Integration der verschiedenen Apps. Jedoch in 10 Jahren ist das Customizing, wie wir es heute noch kennen, Geschichte. Dadurch müssen die Systemhäuser ihre Geschäftsmodelle überdenken.

 

Was ist mit der Erhebung der Anforderungen/PLK gemeinsam mit den Nutzern, z.B. im Sinne von Use Cases?

Unsere W+W360°Methode beinhaltet, dass die Mitarbeiter ihre Geschäftsvorfälle/Use Cases in unserem Tool selber neben ihrem Tagesgeschäft in Prosa beschreiben. Wir setzen diese Daten dann im zweiten Schritt in Anforderungen um und ordnen sie in eine Referenzlandkarte ein. Diese bringen wir mit, um möglichst vollständig zu sein. Jedoch geben wir diese nicht den Mitarbeitern an die Hand. Sie sollen ohne Beeinflussung, jedoch mit Moderation auf einem weißen Blatt Papier, ihre Geschäftsvorfälle aufschreiben. Auf diese Weise erreichen wir zwei Ziele: Erstens wir bekommen das wirkliche IST-Business Need und gleichzeitig binden wir die Mitarbeiter von Anfang an im Projekt ein.

 

Eignet sich eine ERP-Einführung als Trojanisches Pferd für die Prozesseinführung?

Wir sind als W+W als interne Projektleitung auf Kundenseite und unterstützen stark den gehobenen Mittelstand. Unsere Erfahrung ist, dass wir sehr selten schon auf bereits ausgebildete Process Owner treffen, die einen E2E-Prozess von Anfang bis Ende beherrschen und moderieren können. Obwohl das wünschenswert wäre. Letztendlich haben wir fast keine andere Chance als die Process Owner während der Einführung auszubilden. Wir leisten dabei viel Überzeugungsarbeit, um den Fachbereich dafür zu sensibilisieren, dass es auch eine Chance sein kann und die Vorteile und die Möglichkeiten der Optimierung im Lifecycle erkennbar werden.

 

Was sind deiner Meinung nach, die wichtigsten Aspekte zur Unterstützung des Change im Rahmen einer ERP-Einführung?

Wenn wir neue Projekte beginnen und wir frühzeitig dabei sind, heißt dass, das der Kunde hat noch nicht alles entschieden hat und am besten schon morgen mit dem Kick-off starten möchte. Daraufhin empfehlen wir zunächst die Phase 0 durchzuführen. Das heißt der Kunde soll zunächst seine Business Needs identifizieren, seine Strategie und Ziele definieren, den modernen Prozess von Morgen verstehen und letztendlich den Change Impact erkennen. Das empfehlen wir in der Vorbereitung. Während des Projektes empfehlen wir, ein paralleles Change Projekt aufzusetzen, inklusive einem Change Board. In diesem sollten die Entscheider der Fachbereiche vertreten sein, um letztendlich die Changenotwendigkeiten zu erkennen und umzusetzen.

 

Wie können Kunden die Fit2Gap Analyse beschleunigen?

Die Fit2Gap Analyse stammt aus dem SAP Umfeld. Das empfohlene Vorgehen der SAP beinhaltet, dass der Kunde zunächst in der Discover Phase in einem Trialsystem spielen und sich ausprobieren kann. Dabei soll festgestellt werden, was das Unternehmen benötigt und was nicht. Danach wird ein Testsystem installiert und das Kick-off, sowie die Fit2Gap Analyse beginnt. Zwei Berater stellen zu Beginn der Fit2Gap Analyse die von der SAP empfohlenen Best-Practice-Prozesse in BPMN modelliert im Rahmen von Workshops vor. Die Mitarbeiter aus den Fachbereichen müssen dann ad hoc entscheiden, welche Best-Practice-Prozesse ausgewählt werden. Um das tun zu können, müssten sie in der Discover-Phase schon sehr tief schürfen. Damit sind die Fachbereiche überfordert und das war der Grund warum wir Phase 0 kreiert haben. Die Fachbereiche sollen genügend Zeit haben alle Geschäftsanforderungen aufzunehmen und sich bewusst zu machen, was das Business heute benötigt. Ziel ist, dass sie für die Fit2Gap Workshops eine Checkliste bereithalten. Mit dieser Vorbereitung kann man die Fit2Gap Analyse beschleunigen. Gleichzeitig kann man verhindern, dass während dem Projekt vergessene Geschäftsvorfälle auftreten, die den Scope des Projekts gefährden.

Ich selbst wäre nicht in der Lage, in 2-3 Tagen, während der Fit2Gap Workshops, ohne intensive Vorbereitung, ad hoc 90/95 % der Geschäftsvorfälle meines Business abzurufen. Dafür benötigt es 4-8 Wochen (Phase 0), um den Menschen die Zeit zu geben, eine vollständige Checkliste zu erstellen.

 

Sollte das Change Projekt das Systemhaus durchführen oder besser separat von einem Change Experten?

Auf jeden Fall sollte das Change-Projekt von einem Change Experten geführt werden. Das einführende Systemhaus hat sonst einen Rollenkonflikt, denn sie wollen Zeit und Budget einhalten und Projektverzögerungen werden oft vom Change verursacht. Dadurch würden sie vermutlich den Change vernachlässigen, oder die Organisation überfahren. Darüber hinaus ist das Systemhaus für den Kunden keine neutrale Instanz, welche die Interessen der verschiedenen Stakeholder abwägen und beurteilen kann, da das Systemhaus einer dieser Stakeholder ist. Genau das ist die Rolle der W+W. Wir sind der neutrale Dritte, der vom Kunden beauftragt wird und nicht vom einführenden Systemhaus. Meistens übernehmen wir die Projektleitung der Einführungsprojekte und liefern Projekt-, Change- und oft auch Prozessmanagement, oder wir begleiten das Projekt nur aus Sicht des Changemanagements und leiten das Change-Projekt.

 

Wie geht ihr vor, wenn Ihr nur das Change Projekt leitet?

360°Changemanagement-Beratung heißt für uns harter Change, weicher Change und Kommunikation. Unter „hartem Change“ verstehen wir den analytischen Teil. Das Unternehmen bekommt neue Prozesse und Strukturen und damit steht es vor ablauf- und aufbauorganisatorischen Veränderungen. Das kann man aus dem Delta zwischen den IST und SOLL-Prozessen ableiten. Jedoch beeinflusst jede Veränderung von Prozessen oder Strukturen die Mitarbeiter, um die wir uns im Rahmen des „weichen Change“ kümmern. Es geht um Führungskräfte, die einen Bereich abbauen müssen, weil es ihn morgen nicht mehr gibt, oder einen Bereich aufbauen sollen, weil das Unternehmen ihn morgen benötigt. Diese Führungskräfte, müssen auf der einen Seite den Change selber akzeptieren und auf der anderen Seite, ihre eigenen Mitarbeiter enablen die Veränderung umzusetzen. Dabei unterstützen wir die Führungskräfte mit Coaching und Mentoring und haben ein Team in der W+W aufgebaut. Besetzt mit Experten aus HR und Coaching, die sich diesem „weichen Change“ annehmen. Als Letztes kümmern wir uns auch um die Kommunikation, denn Changemanagement bedeutet gleichzeitig, immer offene und transparente Kommunikation, von Anfang an und während des Projekts. Es gibt nichts Schlimmeres als das Verheimlichen von Informationen und das Lostreten von Spekulationen. Das gilt es, um jeden Preis zu vermeiden. Letztendlich darf Changemanagement und Projektkommunikation nicht voneinander getrennt werden.

 

Changemanagement und Projektleitung gehört in eine Hand, evtl. ein Teilzeit-Projekt Spezialist dazu. Der ext. Change Manager kennt nicht den Change. Was sind Ihre Erfahrungen?

Der harte Change kann in der Personalunion gemanagt werden, jedoch nur durch den internen Projektleiter. Dafür muss er beide Qualifikationen, Change und Projektmanagement vorweisen können. Für den weichen Change empfiehlt es sich einen externen Berater, als neutrale Instanz, einzusetzen. Der Projektleiter hätte weder die Kompetenz noch die Zeit sich mit den weichen Faktoren intensiv auseinanderzusetzen. Letztendlich gilt, wer sich um das Thema Changemanagement im Projekt kümmert, muss im Projektgeschehen, mit dem Projektteam und dem Projektleiter eng vernetzt sein. Genau aus diesem Grund bringen wir unser eigenes, extra ausgebildetes Change-Team mit.

 

Selbst beim SAP Greenfield Ansatz in der Cloud benötigt es ein Grund-Customizing. Bedeutet der Kommentar „Systemhäuser verlieren ihre Geschäftsgrundlage“, das SAP aus der Cloud sofort im Standard benutzbar ist? Das wage ich zu bezweifeln. Diese Grundlagen müssen doch auch von SAP Spezialisten eingestellt werden, und kosten Geld. SAP Cloud heißt doch nicht es geht sofort „Out-of-the-Box“, oder gibt es andere Erfahrungen?

Die Systemhäuser verlieren nicht ihre Geschäftsgrundlage, jedoch sollten sie sich über das bestehende Geschäftsmodell Gedanken machen. Sie sollten neue Services und neue Angebote entwickeln sowie sich im Rahmen von ERP-Projekten neu positionieren. Es ist auch nicht so, dass das ERP der Zukunft „Out-of-the-box“ funktioniert. Natürlich gibt es Konfigurationsaufwand, denn ich muss das System ein Stück weit auf die Prozesse und die Anforderungen in der Organisation anpassen. Jedoch ist dieser Aufwand viel geringer und benötigt viel weniger Zeit. Dadurch dauern die Projekte maximal ein Jahr, ein Zeitraum, der nicht ausreicht, um die Organisation auf die Veränderungen vorzubereiten. Zu dem Zeitpunkt des Go-Live der Lösung, muss die Organisation vorbereitet sein, ansonsten könnte das Projekt scheitern. Ich muss rechtzeitig anfangen, das Gerüst zu bauen, damit die Lösung am Ende so funktionieren kann, wie sie funktionieren soll, denn die Organisation muss den Prozess tragen.

 

Cloud wird immer als die flexiblere Lösung dargestellt. Wie einfach ist es einen Anbieter/ Provider zu wechseln? Wie groß ist der Anteil der flexiblen Kosten Lizenzen, Infrastruktur, oder ist das nicht transparent?

Aus technologischer Sicht wird eine höhere Flexibilität möglich sein. Die Standards, auf die sich die großen Hersteller geeinigt haben, ermöglichen es, die Lösung überall zu betreiben. Auch der Umzug zwischen verschiedenen Herstellern dürfte nicht allzu intensiv sein, da die Appisierung stärker wird. Der Best-of-Breed-Ansatz reduziert vor allem die Komplexität, weil man sich eine modulare Welt aufbaut, in der Apps aufgrund der standardisierten Schnittstellen ausgetauscht werden können. Es wird aber nicht auf Fingerschnipp gehen.

 

Wie häufig wird die „Digitale Transformation“ bei der Einführung/Relaunch eines ERP in einem Projekt kombiniert? Ist das überhaupt trennbar?

ERP ist ein Teil, beziehungsweise die Basis der Digitalisierung. Hierzu ein einfaches Beispiel: Wenn ein Unternehmen SAP- Ariba einführt und dafür sorgt, dass alle Mitarbeiter, intern und extern, eigenständig ihre Bestellungen durchführen, dann ist das ein digitalisierter ERP-Prozess.

 

Ausblick auf das nächste Webinar am 05.06.2020 von 11-12 zum Thema Phase 0.

Am 05.06.2020 sprechen und diskutieren wir darüber, wie man sich am besten auf ein Projekt vorbereiten kann. Wir besprechen intensiv die Phase 0 und viele Themen, die wir auch bereits im Kick-off heute angeschnitten haben.

Unter folgendem Link können Sie sich das Kick-off-Webinar ansehen, um sich auf die nächste Session einzustimmen: